Kinder erziehen sich selbst. So lautet die Hauptbotschaft und Grundthese der Reggio-Pädagogik. Nun, aus Praxis wissen wir, dass jüngere Kinder häufig von älteren Kindern lernen, ohne dass man als Erwachsener viel dafür tun muss. Doch, bedeutet dies, dass Kinder keine Erziehung brauchen, dass sie sich selbst erziehen?
Vielleicht denken Sie jetzt: „Blödsinn! Kinder erziehen sich nicht selbst. Sie brauchen klare Regeln. Sie müssen angehalten werden, ihre Spielsachen aufzuräumen, ihre Hausaufgaben zu erledigen, sich zu waschen.
Vielleicht denken Sie auch: „Ach! Wäre das schön. Kein schimpfen mehr oder lange Diskussionen.“
Zwei Bilder vom Kind – Wie Reggio-Pädagogik helfen kann
Den zwei Denkweisen – Kinder müssen erzogen werden und Kinder erziehen sich selbst – liegen verschiedene Bilder vom Kind zugrunde. Lassen Sie mich den Unterschied folgendermaßen erklären:
- Nehmen wir an, Sie würden ein Haus bauen. Dann beginnen Sie gewöhnlich mit der Planung.
- Und dann legen Sie genau fest, wo die Steckdosen sein sollen – drei hier, zwei dort und eine hier – und diese werden dann mit der Stromquelle verbunden. Nach einiger Zeit merken dann die meisten Häuslebauer, dass trotz aller Planung die Steckdosen häufig an der falschen Stelle sind.
Unser Gehirn geht da schlauer vor, und das wissen wir aus den Neurowissenschaften. Bei der Geburt haben Babys mehr Nervenzellen als sie später brauchen. Mit zwei Jahren hat ein Kind bereits 90 % aller Nervenzellen eines Erwachsenen. Das ist ungefähr so, als wäre das ganze Zimmer voller Steckdosen. Und erst dann, wenn die Möbel stehen, wird entschieden, welche der Steckdosen in Betrieb genommen werden.
Wenn wir Kinder erziehen, dann legen wir fest, an welche Stelle die Steckdosen kommen. Wir geben, und zwar aus unserer Erwachsenensicht, die Regeln vor. Wir geben vor zu wissen, was für das unerfahrene und unfertige Kind gut ist. Im Unterschied dazu geht die Reggio-Pädagogik davon aus, dass sich Kinder selbst erziehen, wenn wir uns als Erzieher oder Eltern weitestgehend aus dem Einflussbereich zurücknehmen.
Die Neurobiologen nennen dies „das selbstorganisierte Kind“.
Video: Das selbstorganisierte Kind, Prof. G. Hüther
Das sich selbst organisierende Kind
In der Reggio-Pädagogik wird die Erkenntnis vom dem sich selbst organisierenden Kind erst genommen und findet in der Umsetzung Anwendung. Gleich, wie Sie zur Reggio-Pädagogik stehen, das Wissen, das Verstehen und die Anwendung der pädagogischen Mittel und Instrumente erleichtern den Umgang mit Kindern wesentlich und beeinflussen den Blick auf die Kinder nachhaltig.
„100 Sprachen spricht das Kind.“ und genau wie im Film Nell, indem eine junge Frau eine nur ihr bekannte Sprache spricht und dem Therapeuten nichts anderes übrig bleibt als diese Sprache zu lernen, ist es unsere Aufgabe die 100 Sprachen des Kindes zu lernen. Wer diese kann, kann das Kind verstehen und auf Anweisungen und Verbote weitestgehend verzichten.
100 Sprachen ist ein Synonym für die Vielfältigkeit, in der Kinder sich und ihre Umwelt wahrnehmen und erforschen. Von diesen 100 Sprachen nehmen wir, so Reggio, dem Kind 99 und sagen ihm, dass es nur eine Sprache gibt. So wurden wir erzogen, so wurden unsere Eltern und deren Eltern erzogen und so wissen wir es nicht anders.
Die Reggio-Pädagogik stellt das Bild vom Kind vom Kopf auf die Füße. Share on XDie Reggio-Pädagogik ist für Erzieher und Eltern, die autonome Kinder, mit einem gesunden Selbstvertrauen, mit Entscheidungskompetenz und einem guten Einschätzungsvermögen für Risiken wollen. Und das erreichen sie mit beeindruckend einfachen Mitteln.
In den später folgenden drei Artikeln werde ich Ihnen einen Einblick in die Denkweise der Reggio-Pädagogik geben:
- Was es bedeutet, dass Kinder ihr eigener Erzieher sind?
- Welche Rolle nehmen Erzieher ein?
- Welche pädagogischen Mittel und Instrumente werden eingesetzt?
Autorin: Dr. Kristina Schubert, Inhaberin: Institut für Selbstmanagement und Innovation, Dipl. Pädagogin, NLP-Trainerin und Lernbegleiterin
Arbeitsgebiete: Weiterbildung für Tagesmütter/-väter und Erzieher
Schreibe einen Kommentar